Die ungehemmte Genusssucht

Der dritte Strafsenat des OLG Celle und die ungehemmte Genußsucht (23.11.1962, 3 Ws 280/62) Eine über 40jährige Ehefrau ließ sich sterilisieren. Der Arzt, der die Sterilisation durchführte, wurde einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt. Seine Stellung als Chefarzt in einem niedersächsischen Krankenhaus verlor er, sein Nachfolger hatte die Patientenakten der Staatsanwaltschaft ausgeliefert. Die betroffene Frau klagte gegen den neuen Chefarzt und den ermittelnden Staatsanwalt wegen Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht.

In dem oben zitierten Beschluß wies der dritte Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle diesen Vorwurf zurück. Schuldig gemacht habe sich ausschließlich die Frau, die ohne staatliche Anordnung, vielmehr aus eigenem Antrieb keine Kinder mehr haben wollte. Dies sei unmoralisch. Ärztliche Eingriffe, wie sie an ihr vorgenommen worden seien, seien Gefälligkeitssterilisationen. Wörtlich heißt es: "Auf jeden Fall aber werden .... Sterilisationen, die nur sozial indiziert sind, oder gar nur zur Gefälligkeit vorgenommen werden, in aller Regel als schwere Körperverletzungen (§§ 224, 225 StGB) zu werten sein. Sie sind, auch wenn man in einem zu Heilzwecken erfolgten ärztlichen Eingriff eine Körperverletzung sieht, tatbestandlich Körperverletzungen, weil diese Sterilisationen eben nicht zu Heilzwecken erfolgen, sondern allenfalls der sozialen Besserstellung, im Falle der Gefälligkeitssterilisation aber sogar einer ungehemmten Genußsucht Vorschub leisten."

Die Entscheidung löste damals hohe Wellen aus. Adolf Arndt, der Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst schrieb in der Neuen Juristischen Wochenschrift vom 09.05.1963: "Was aber nicht hingenommen werden kann, ist die hier erkennbare Auffassung vom Menschen, die ihm entgegen Artikel 1 Grundgesetz eine sexuelle Bestialität unterstellt. Die eheliche Geschlechtsgemeinschaft erscheint aus solcher Sicht als Wollust und Unzucht, wird sie nicht aus Furcht vor dem Kind gebändigt. Es ist eine mit Artikel 6 Grundgesetz nicht vereinbare Herabwürdigung der Ehe, wenn vermutet wird, der eheliche Verkehr bedürfe einer Hemmung durch Angst und Zwang. Keineswegs ist es eine einhellige Überzeugung in unserem Volke, daß das eheliche Ein-Fleisch-Sein nur der Fortpflanzung diene oder allein durch sie gerechtfertigt werde. Sind dann Eheleute, die wissen, daß ihnen ein Kind versagt ist, zu einem Lotterleben verdammt? Eine Judikatur, die sich auf so befremdliche Mutmaßungen stützt, gerät in Gefahr, den Staat als kinderbegierigen Moloch zu mißzuverstehen, und muß sich befragen lassen: Quo Vadis?"

Der Beschluß und die durch ihn ausgelösten Diskussionen zeigen, daß Recht nicht objektiv und losgelöst von moralischen Vorstellungen und Glaubensfragen ist und sein kann. Ein derartiger Gerichtsbeschluß wäre heute wohl undenkbar.

Zum nächsten Text Der Prozess gegen die Geschwister Scholl

Zurück zur Textübersicht Texte

Zurück zur Startseite: Homepage Rechtsanwalt van Vliet