Der Prozess Beaudelaire

Die "Blumen des Bösen" sind ein Meisterwerk französischer Lyrik, in Deutsch liegen sie in einer meisterhaften Übersetzung von Prof. Carlo Schmid vor, der als Mitglied des Parlamentarischen Rates einer der Väter des Grundgesetzes war.

Die "Blumen des Bösen" erschienen 1857 in Paris. Ein Gedichtband von über 250 Seiten mit Versen, die über ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Kraft und von ihrem Reiz verloren haben. Formschön, von mitreißendem Rhythmus beschäftigen sich die in der Erstausgabe über 250 Seiten umfassenden Verse mit Elend, Laster und Lust, mit der Faszination des Häßlichen, des Todes, des Bösen. Beaudelaire ist, indem er Dantes prägende Themen aufgriff, bestimmend geworden für ganze Lyrikerschulen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, besonders die Symbolisten um Maillarme und Eluard hat er nachweislich beeinflusst. Beaudelaire ist jedoch kein Zyniker, kein Verächter des Schönen und Reinen, immer wieder klingt in seinen Versen das Grundthema des Suchens nach dem Schönen, Reinen, der christlichen Erlösung an.

Nichtsdestotrotz waren die "Blumen des Bösen" geradezu prädestiniert, ein Thema für die Justiz zu werden.

Im August 1857 sitzt Beaudelaire auf der Anklagebank, angeklagt wegen Verstoßes gegen die guten Sitten. Im Eröffnungsplädoyer zitiert der Staatsanwalt aus ihm anstößig erscheinenden Stellen aus den Gedichten "Die Juwelen", der "Lethe" und "Die Allzufrohen", aus denen er immer nur einzelne Strophen herausnimmt. Im Gedicht "Die Juwelen .." kommt eine nackte, auf dem Bett ruhende, Geliebte vor, die lediglich ihre Juwelen nicht abgelegt habe und zur Liebe bereit sei, im Gedicht der "Lethe" ist die Rede vom holden Schierling, der auf steilen Brüsten getrunken werden soll, im Gedicht "Die Allzufrohen" gibt es zumindest drei Strophen, in denen man mit böswilliger Phantasie eine Lobpreisung des Sadismus sehen könnte. Auch die Gedichte "Lesbos" und "Frauen der Verdammnis" läßt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer einfließen.

Nach der Abhandlung der seiner Auffassung nach sexuell anstößigen Stellen kommt er zum Anklagepunkt der Gotteslästerung und wirft Beaudelaire vor, Christus zu verleugnen, für Kain gegen Abel Partei zu ergreifen, Satan anzurufen und kommt zu dem Schluß, daß Beaudelaire mit seinen Versen gegen die christliche Moral verstoße.

Überraschenderweise enthält sein Plädoyer keinen Schlußantrag, sondern sogar einen Appell an das Gericht, Milde zu sein.

Beaudelaires Verteidiger stellt diesem Plädoyer ausgewählte Textstellen aus den klassischen Werken Molieres, Dantes, Balzacs entgegen, zitiert Passagen aus deren Werken, vergißt nicht Rabelais, Voltaire und Rousseau. Seine Verteidigung fußt offensichtlich darauf, nachzuweisen, daß die französische Literatur voll sei von drastischen und freizügigen Schilderungen, es hier eine Tradition der Dichtkunst gebe, in die sich Beaudelaire einreihe, so daß nur Freispruch in Betracht käme.

In seinem Schlußurteil spricht das Gericht tatsächlich frei, aber nur soweit es das Vergehen eines Verstoßes gegen die religiöse Moral angeht, wegen Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand und die guten Sitten, verurteilt es Beaudelaire zu 300 Francs Geldstrafe und ordnet gleichzeitig die Streichung der Gedichte Nrn. 20, 30, 39, 80, 81 und 87 an.

Gegen das Urteil legt Beaudelaire keine Berufung ein, in der 1861 erschienenen Neuauflage des Buches hat er die sechs verbotenen Gedichte durch 35 neue Gedichte ersetzt.

"Die Blumen des Bösen" traten einen Siegeszug rund um die Welt an, wurden in zahlreichen Sprachen übersetzt, ohne daß es zu weiteren Gerichtsverfahren gekommen wäre. Das Urteil und das Verbot eines Teil der Gedichte wurde zunehmen als unzeitgemäß, ja sogar als Schandfleck für die Kulturnation Frankreich betrachtet. Man stand jedoch vor einem unlösbaren Problem. Die Wiederaufnahme eines Prozesses, die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils erfordert neue Tatsachen, dieser Rechtsgrundsatz ist in vielen hochentwickelten Rechtssystemen anzutreffen und gilt noch heute in Frankreich nicht anders als in Deutschland. Beaudelaire ist es posthum zu verdanken, daß im Jahre 1929 der damalige Justizminister Barthou einen Gesetzesentwurf einbringt, der der "Société de gens des lettre" die Möglichkeit einräumen soll, bei Verurteilungen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten ein Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten. Barthou kann diesen Gesetzesentwurf nicht mehr einbringen, da er sein Ministerium abgeben muß, erst im Jahre 1946 wird sein Gesetzesentwurf wieder in die Nationalversammlung eingebracht und dort einstimmig angenommen. Die "Société de gens de lettre" erhält das ausschließliche Recht, eine Wiederaufnahme von Verfahren gegen die vorerwähnten Urteile zu beantragen, wenn mindestens 20 Jahre seit der Rechtskraft des Urteils vergangen sind.

Unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes beantragt die "Société de gens de lettre" als erstes die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Beaudelaire. 92 Jahre, fast ein Jahrhundert nach dem ersten Prozeß kommt es 1949 zum zweiten Beaudelaire-Prozeß. Der Kassationshof folgt dem übereinstimmenden Antrag des Berichterstatters der Kammer und des Generalstaatsanwaltes, der in seiner Stellungnahme es als eine Ehre bezeichnet, einen Irrtum seiner Behörde durch seinen jetzigen Antrag korrigieren zu können. Der Kassationshof spricht Beaudelaire in allen Anklagepunkten frei.

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