Rechtsfindung im alten Athen

Im Ordner berühmte Prozesse ist im Prozeß gegen Sokrates nachzulesen, daß er von einem Gericht aus fünfhundert Richtern zum Tode verurteilt wurde.

Diese für heutige Vorstellungen undenkbare Form der Rechtsfindung ist Ausfluß des sehr radikalen Demokratieverständnisses des klassischen Athens, nachdem sich Perikles gegen das Machtzentrum des Adels durchgesetzt hatte. Die Demokratie Athens wurde nach der Entmachtung des Areopag und der Übertragung fast sämtlicher Rechte auf die Volksversammlung bestimmt vom Losverfahren. Bei Aristoteles finden wir den Satz: "Und zur Freiheit gehört erstens, daß man abwechselnd regiert und regiert wird....". Zu Zeiten des Sokrates waren wichtigste Organe die Volksversammlung und der Rat der Fünfhundert. Die Volksversammlung traf sich dreißig- bis vierzigmal im Jahr.

Auch die Rechtsprechung erfolgte durch Richter, die ausgelost wurden. Athen war in zehn Verwaltungsbezirke eingeteilt. Jeder über dreißig Jahre alte Bürger nahm in seinem Verwaltungsbezirk am Losverfahren teil. Fiel das Los auf ihn, nahm er von da an an den weiteren Auslosungen teil, die täglich stattfanden. Aus insgesamt derart gebildeten sechstausend "Geschworenen" wurden die notwendigen Gerichte gebildet, die in der Regel aus fünfhundert Personen bestanden. Personen heißt: Männer. Frauen und Sklaven waren sowohl vom Losverfahren, als auch von der Rechtsfindung ausgeschlossen.

Grundsätzlich fünfhundert Richter urteilten in den Strafverfahren. Jeder konnte anklagen, nach Durchführung der Verhandlung wurde über die Anklage abgestimmt. Erhielt der Ankläger für seine Anklage weniger als ein Fünftel der Stimmen der versammelten Richter, mußte er eine Strafe von eintausend Drachmen zahlen.

Ein solches, aus den sechstausend "Schöffen" gewähltes Gericht war es, das den Sokrates verurteilte.

Im Zivilrecht gab es allerdings schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert eine Abstufung nach Streitwert. Privatrechtliche Streitigkeiten gingen zunächst an das "Kollegium der vierzig". Dieses Kollegium teilte sich in zehn Vierergruppen auf, für jeden der zehn Athener Verwaltungsbezirke eine. Die vier Richter entschieden bei Streitwerten unter zehn Drachmen selbst. Bei höheren Streitwerten wurde der Fall zunächst an einen öffentlichen Schiedsrichter verwiesen. Erst die Berufung gegen dessen Urteil landete vor einem Gericht, welches nun wiederum aus den ausgelosten Richtern zusammengesetzt war, bei Gegenstandswerten von weniger als eintausend Drachmen vor ein Gericht von zweihundert ausgelosten Richtern, bei Gegenstandswerten von mehr als eintausend Drachmen vor ein Gericht von vierhundert ausgelosten Richtern. Eine Urteilsvollstreckung gab es nur strafrechtlich, die Todesstrafe wurde durch einen Scharfrichter ausgeführt.

Privatrechtliche Urteile mußte man selbst vollstrecken, im Wege der Selbsthilfe.

Zum nächsten Text Atomwaffenurteil

Zurück zur Textübersicht Texte

Zurück zur Startseite: Homepage Rechtsanwalt van Vliet